Dienstag, 8. Juli 2014

Brief aus Kramatorsk

Der folgende, von uns ins Deutsche übersetzte Text, stammt von Svetlana aus Kramatorsk. Sie unterrichtet Physik an der Universität. Seit letzter Woche gehört sie gemeinsam mit ihrer ganzen Familie zu den weit über 100 000 Flüchtlingen aus der Ostukraine.


Ich grüße den Tag am 10. Juni 2014. Sei lieb und bitte nicht der letzte!

Die Stadt lebt ihr provinzielles Leben… wenn man von den Feindseligkeiten dort nichts weiß, dann hat sich äußerlich nichts verändert. Sonne, Wind, Vögel, manchmal Gewitter… ein Donner ist schwer von einer fernen Explosion zu unterscheiden, wir müssen genau hinhören. Leider gibt es oft Explosionen… ich aber wünsche mir ein Gewitter!

Die Luftangriffe sind sehr beängstigend. Vor dem Beschuss der regionalen Stadtverwaltung in Lugansk durch Flugzeuge und Hubschrauber hatten wir keine Angst, jetzt aber ist sie da. Wir haben bemerkt, dass die Schwalben bei der Annäherung von Flugzeugen ganz niedrig fliegen, wie vor dem Regen. Wenn die Gefahr vorbei ist, steigen die Schwalben wieder hoch.

Es fällt auf, dass es viel weniger Kinder, Menschen und Autos zu sehen gibt… ich kann es nur mit Winter, Frühling oder Herbst vergleichen, da ich im Sommer noch nie in der Stadt gewesen bin. Ob es jedes Jahr so leer ist? Die meisten sind geflüchtet, aber 80-90% wollen wiederkommen wenn der Krieg zu Ende ist.

Aber egal wo wir uns in der Stadt befinden, überall hört man das gleiche: „Morgen werden sie uns wieder bombardieren, da sie uns nur 72 Stunden gegeben haben, um die Stadt zu verlassen. Fahren Sie irgendwohin? Wie kommt man nach Charkow, Rostow, auf die Krim? Ist es möglich meinen Ehemann aus der Ukraine abzuholen, oder den schon erwachsenen Sohn? Werden wir unsere Gehälter und Renten bekommen?“ Die wichtigsten Fragen sind „Warum WIR?“, „Wann ist dieser Krieg zu Ende?“.

Die Behörden haben die Stadt finanziell abgeschnitten, das heißt Löhne von Beamten, Renten und Sozialleistungen werden nicht bezahlt. Für diejenigen, die nichts auf der Seite haben, wird es sehr hart. Man sieht nun sehr viele alte Frauen die betteln. Zum Milchmann auf der Straße kommt man nicht mehr mit einem 3 Liter Glas, wie früher, sondern mit einem 0,5-1 Liter Behälter. Günstiges Brot ist sofort ausverkauft und in den Lebensmittelgeschäften gibt es viel weniger Produkte. Die Regale mit Bier, Wodka und Chips in einigen Läden sind leer, aber man kann ja auch ohne solche Dinge leben. Die meisten herkömmlichen Lebensmittel kann man noch kaufen. Vielleicht fehlt auch von diesen Dingen hier und da etwas, aber mir ist nichts aufgefallen.

Es gibt viele Panikmacher. Sie sind ein großes Unglück, weil sie die anderen anstecken. Ein bisschen verstehe ich nun, warum solche Panikmacher im 2. Weltkrieg erschossen worden sind. Ich denke etwa an gestern: Im Radio schrie eine Frau „Am Krytyy Rynok (überdachter Markt) gibt’s Explosionen“. Nach genaueren Fragen stellte sich heraus, dass die Frau in der Nähe dieses Marktes lebt und die Explosionen von irgendwo weit her aus dem Umland gehört hat. Uuups… Wenn so ein Panikmacher überall herumschreit, dass es auf dem Mark Explosionen gibt, wird ihm jeder glauben. Und das Ergebnis: Die halbe Stadt ist in Panik, alle laufen nervös herum und suchen Luftschutzkeller. Daher versuchen wir den Menschen beizubringen, sich richtig auszudrücken: „Ich höre oder sehe etwas… dort!“

Ständig müssen wir unsere Eltern, Freunde, Nachbarn, oder auch irgendwelche Menschen auf der Straße beruhigen. Wir haben dazu den Begriff „pokolyhatj (wiegen)“, das heißt beruhigen, Panik vermeiden, geprägt. Dazu bereiten wir die Menschen auf mögliche Angriffe vor, erzählen ihnen wohin sie gehen können, und was in diesem Fall zu tun ist. Wir sagen Ihnen auch, dass sie, wenn bombardiert wird, nicht gleich allen den Ort sagen sollen, wo die Bomben eingeschlagen haben. Schließlich wollen wir dem Feind nicht helfen! Es ist in Ordnung den Bezirk zu nennen, aber nicht mehr… später, eine Stunde nach dem Angriff, fangen wir an zu klären wo genau die Bomben fielen, und welchen Schaden und welche Verluste es zu beklagen gibt.

Heute Nacht habe ich eine Frau mit ihrem Kind beherbergt. Sie ist die Ehefrau eines Mannes der Selbstverteidigungsstreitkäfte, der in Slaviansk getötet wurde, und sie ist nun unterwegs zu seiner Beerdigung . Sie kam spät in der Nacht nach Kramatorsk, und weil es erst am nächsten Tag in der Früh möglich war nach Slaviansk zu fahren, habe ich sie für die Nacht aufgenommen. Diese Frau konnte nicht mehr weinen, sie war wie eine Schlafwandlerin. Mit ihr zu sprechen um sie zu beruhigen, war sinnlos, denn sie war nicht in der Lage zuzuhören. Sie hätte einen Psychologen gebraucht… Ihre Tochter war 4 Jahre alt, müde von der Reise und ein bisschen launisch… natürlich verstand sie noch nicht alles… es war eine schwere Nacht. Heute haben wir diesen Volksaufgebotsverteidiger beerdigt.

An einem anderen Tag hat man uns im Kreisratskomitee einen Zettel gezeigt, mit der Bitte bei Eltern anzurufen – die Nummer stand dabei. Diese Notiz hat uns ein junger Soldat an einem ukrainischen Checkpoint ins Auto geworfen. Selbstverständlich haben wir seine Eltern angerufen und ihnen alles erzählt. Der Junge stammt aus einem Dorf in der Region Winnyza und dient im Moment bei der ukrainischen Armee. Die Eltern dachten dass er irgendwo in ihrer Heimatregion sein würde, aber in Wirklichkeit war er bei Slaviansk stationiert. Natürlich waren die Eltern schockiert. Wir haben ihnen gesagt das er lebt und gesund ist usw. …. das ist kein Einzelfall!

Heute haben sie uns wieder bombardiert. Ich schrieb in mein Tagebuch: 4 Menschen wurden getötet, alle Zivilisten… es gibt viele Verwundete, die Hälfte der Stadt ist ohne Strom und die ganze Stadt ohne Wasser. Lena, glaube mir, wir hatten gar keine Angst mehr… ja, wir wurden bombardiert, aber es ist weit weg von uns, wir haben uns nicht einmal im Keller versteckt…

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